Die jüdische Gemeinde Schlüchterns

Stolpersteine

Die jüdische Gemeinde Schlüchterns, im ältesten Memorbuch zum ersten Mal um 1250 erwähnt, gehört mit zu den ältesten jüdischen Gemeinden östlich des Rheins. Sie hatte das Mittelalter hindurch bis in die Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung einen gleichbleibenden Anteil an der meist evangelischen Stadtbevölkerung von 10 – 14 Prozent. 

1925, bei der letzten Volkszählung im Deutschen Reich, waren von den 3200 Einwohner:innen 10,5 % Jüdinnen und Juden.

Damit wies Schlüchtern von allen Städten des Reiches den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil auf. Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts Napoleon die Jüdinnen und Juden von den alten Ordnungen befreit, sie aus ihren Gassen herausgeführt und mit der christlichen Bevölkerung rechtlich gleichgestellt hatte, blühte auch die jüdische Gemeinde unserer Stadt auf und erlebte einen in ihrer Geschichte nie dagewesenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung. In unserer Stadt fand diese Umwälzung unter anderem ihren Niederschlag in der Gründung neuer Unternehmen und der Expansion und dem Ausbau kleiner Handels- und Hausiergeschäfte. 

So verdienten jüdische Schlüchterner:innen in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren Lebensunterhalt unter anderem:

Ehemalige Synagoge am Obertor
Mit Fleiß, ideenreich und modernisierungsoffen schafften viele von ihnen den Aufstieg in die bürgerliche Mittelschicht.
Ein Kennzeichen waren ihre – im Vergleich zum alten Baubestand – neuen stattlichen Wohn- und Geschäftshäuser in der Obertorstraße und in der Fuldaer Straße, auch die repräsentable Villa Wolf in der Bahnhofstraße. Ihrem geschäftlichen Erfolg begegneten gelegentlich christliche Mitbewerber:innen und Nachbar:innen mit Missgunst und Ressentiments. Doch dadurch wurde das „normale“ Miteinander christlicher und jüdischer Schlüchterner:innen nie in Frage gestellt. Begeistert hat das die Zeitschrift „Der Israelit“ in dem Bericht über die Einweihung der Synagoge 1898 hervorgehoben:

„Unter den Bürgern der Stadt herrscht Friede und Eintracht“. In welchem Maße die jüdischen Schlüchterner:innen „echte Schlüchterner:innen“ waren, mögen folgende Beispiele, die für viele stehen, verdeutlichen: Die jungen jüdischen Männer unserer Stadt kämpften im Ersten Weltkrieg mit demselben Patriotismus wie ihre christlichen Kameraden. Sieben von ihnen sind gefallen. Ihre Namen sind auf dem Kriegerdenkmal verewigt, das die Stadt ihren Gefallenen auf dem christlichen Friedhof gewidmet hat. Ilse Wolf widmete sich der unmittelbaren Praxis, der Linderung der Not in ihrem nächsten Umfeld und darüber hinaus, indem sie sich für arbeitslose Familien engagierte und diese z.B. individuell zu Weihnachten beschenkte.

„Der Israelit“ vom 01.09.1898
Der 1898 fertiggestellte Synagogenneubau in der damaligen Kaiserstraße
Über Jahrzehnte hindurch gestalteten christliche und jüdische Schlüchterner:innen gemeinsam die Politik ihrer Stadt.

Eine ganze Reihe von ihnen bestimmten als Stadträte in der „Stadtregierung“ neben dem Bürgermeister die Richtlinien der städtischen Politik, unter ihnen Hermann Reis und Victor Wolf. Beachtenswert auch die Zahl der jüdischen Stadtverordneten, unter ihnen Siegmund Neuhof und Synagogenvorsteher Jakob Hirsch Rothschild, der zum Stadtverordnetenvorsteher gewählt wurde, und dessen „allgemein tugendhaftes und vorbildliches Leben“ der Landrat des Kreises Schlüchtern 1928 würdigte.

In unserer Stadt begegneten sich Jüdinnen und Juden und Christ:innen mit Respekt und Wertschätzung.
Ein eindrucksvolles Indiz dafür ist die Beteiligung der offiziellen Stadt- und Kreis- Repräsentant:innen sowie vieler Einwohner:innen bei der Einweihung der Synagoge in der Grabenstraße. An dem Festumzug durch die Stadt sind Bürgermeister und Landrat mitmarschiert, und den feierlichen Akt der Einweihung haben sie mit ihren Festansprachen zur Vollendung gebracht. Nicht nur sie haben dem Festakt Gewicht und Bedeutung gegeben, auch „Magistrat und Stadtverordnete in corpore“, so „Der Israelit“, haben mit ihrer Teilnahme der jüdischen Gemeinde Ehre erzeigt.
Das seit dem 19. Jahrhundert gute nachbarliche Zusammenleben der christlichen und jüdischen Schlüchterner:innen fand mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 20. Januar 1933 ein abruptes Ende.

Jüdinnen und Juden werden systematisch diskriminiert, entrechtet und verfolgt. Schon am 1. April boykottierte die SA die jüdischen Geschäfte in unserer Stadt. Ein SA-Mann stand jeweils als „Wachposten“ vor der Ladentür. Ans Schaufenster klebten sie Plakate „Kauft nicht bei Juden“. Der Exodus der jüdischen Schlüchterner:innen setzte sofort ein. Bis zum Sommer verließen an die 90 die Stadt und planten zu emigrieren. Im Pogrom am 9. und 10. November 1938 wurde das Innere der Synagoge verwüstet und geschändet, die heiligen Gegenstände vernichtet, jüdische Geschäfte geplündert, Menschen gedemütigt, geschlagen und misshandelt. Auch Jugendliche in der „Hitler-Jugend“ und im „Bund Deutscher Mädchen“ beteiligen sich an den Zerstörungen. Mehrere jüdische Bürger:innen wurden „zu ihrer persönlichen Sicherheit“ so die zynische Begründung, in „Schutzhaft“ genommen. Wer Glück hatte, dem gelang noch der Umzug nach Frankfurt am Main und von dort vielleicht die Emigration. Die letzten jüdischen Schlüchterner:innen wurden 1942 deportiert. 

Über 300 jüdische Einwohner:innen lebten vor 1933 in unserer Stadt. Sie wurden verfolgt, deportiert, viele ermordet. Nur eine Familie kehrte nach Kriegsende (in November 1945) in ihre Heimatstadt zurück, die Familie Kohn. Alexander Kohn, vor dem Krieg Inhaber eines Tabakladens in der Obertorstraße, und seine Frau Paula kamen aus dem KZ Theresienstadt, Tochter Margret und ihr Ehemann Fritz Zentner aus der KZ-Zwangsarbeit. Ihre Tochter Helen wurde 1947 geboren. Die Familie Kohn blieb nur vier Jahre, die Familie Zentner acht Jahre, bevor sie nach New York auswanderten.

„Der Israelit“ vom 16.01.1930

(Ernst Müller-Marschhausen)

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