Die jüdische Gemeinde Schlüchterns, im ältesten Memorbuch zum ersten Mal um 1250 erwähnt, gehört mit zu den ältesten jüdischen Gemeinden östlich des Rheins. Sie hatte das Mittelalter hindurch bis in die Jahre vor der nationalsozialistischen Machtergreifung einen gleichbleibenden Anteil an der meist evangelischen Stadtbevölkerung von 10 – 14 Prozent.
Damit wies Schlüchtern von allen Städten des Reiches den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil auf. Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts Napoleon die Jüdinnen und Juden von den alten Ordnungen befreit, sie aus ihren Gassen herausgeführt und mit der christlichen Bevölkerung rechtlich gleichgestellt hatte, blühte auch die jüdische Gemeinde unserer Stadt auf und erlebte einen in ihrer Geschichte nie dagewesenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung. In unserer Stadt fand diese Umwälzung unter anderem ihren Niederschlag in der Gründung neuer Unternehmen und der Expansion und dem Ausbau kleiner Handels- und Hausiergeschäfte.
So verdienten jüdische Schlüchterner:innen in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren Lebensunterhalt unter anderem:
„Unter den Bürgern der Stadt herrscht Friede und Eintracht“. In welchem Maße die jüdischen Schlüchterner:innen „echte Schlüchterner:innen“ waren, mögen folgende Beispiele, die für viele stehen, verdeutlichen: Die jungen jüdischen Männer unserer Stadt kämpften im Ersten Weltkrieg mit demselben Patriotismus wie ihre christlichen Kameraden. Sieben von ihnen sind gefallen. Ihre Namen sind auf dem Kriegerdenkmal verewigt, das die Stadt ihren Gefallenen auf dem christlichen Friedhof gewidmet hat. Ilse Wolf widmete sich der unmittelbaren Praxis, der Linderung der Not in ihrem nächsten Umfeld und darüber hinaus, indem sie sich für arbeitslose Familien engagierte und diese z.B. individuell zu Weihnachten beschenkte.
Eine ganze Reihe von ihnen bestimmten als Stadträte in der „Stadtregierung“ neben dem Bürgermeister die Richtlinien der städtischen Politik, unter ihnen Hermann Reis und Victor Wolf. Beachtenswert auch die Zahl der jüdischen Stadtverordneten, unter ihnen Siegmund Neuhof und Synagogenvorsteher Jakob Hirsch Rothschild, der zum Stadtverordnetenvorsteher gewählt wurde, und dessen „allgemein tugendhaftes und vorbildliches Leben“ der Landrat des Kreises Schlüchtern 1928 würdigte.
Jüdinnen und Juden werden systematisch diskriminiert, entrechtet und verfolgt. Schon am 1. April boykottierte die SA die jüdischen Geschäfte in unserer Stadt. Ein SA-Mann stand jeweils als „Wachposten“ vor der Ladentür. Ans Schaufenster klebten sie Plakate „Kauft nicht bei Juden“. Der Exodus der jüdischen Schlüchterner:innen setzte sofort ein. Bis zum Sommer verließen an die 90 die Stadt und planten zu emigrieren. Im Pogrom am 9. und 10. November 1938 wurde das Innere der Synagoge verwüstet und geschändet, die heiligen Gegenstände vernichtet, jüdische Geschäfte geplündert, Menschen gedemütigt, geschlagen und misshandelt. Auch Jugendliche in der „Hitler-Jugend“ und im „Bund Deutscher Mädchen“ beteiligen sich an den Zerstörungen. Mehrere jüdische Bürger:innen wurden „zu ihrer persönlichen Sicherheit“ so die zynische Begründung, in „Schutzhaft“ genommen. Wer Glück hatte, dem gelang noch der Umzug nach Frankfurt am Main und von dort vielleicht die Emigration. Die letzten jüdischen Schlüchterner:innen wurden 1942 deportiert.
Über 300 jüdische Einwohner:innen lebten vor 1933 in unserer Stadt. Sie wurden verfolgt, deportiert, viele ermordet. Nur eine Familie kehrte nach Kriegsende (in November 1945) in ihre Heimatstadt zurück, die Familie Kohn. Alexander Kohn, vor dem Krieg Inhaber eines Tabakladens in der Obertorstraße, und seine Frau Paula kamen aus dem KZ Theresienstadt, Tochter Margret und ihr Ehemann Fritz Zentner aus der KZ-Zwangsarbeit. Ihre Tochter Helen wurde 1947 geboren. Die Familie Kohn blieb nur vier Jahre, die Familie Zentner acht Jahre, bevor sie nach New York auswanderten.
(Ernst Müller-Marschhausen)
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